Ein Blick auf die Wurzeln, den Anspruch – und die Zukunft
Einleitung: Warum diese Frage heute neu gestellt werden muss
In einer Zeit, in der sich das religiöse Wissen in Memes, YouTube-Videos und schnellen Zitaten verliert, wirkt die klassische islamische Gelehrsamkeit fast wie ein Relikt vergangener Tage. Gleichzeitig bleibt sie ein Sehnsuchtsort: tiefes, authentisches Wissen, moralische Orientierung, spirituelle Tiefe und intellektuelle Klarheit. Doch was bedeutet es eigentlich, „Gelehrter“ oder „Gelehrte“ im Islam zu sein? Wer darf diesen Titel überhaupt tragen? Und was bedeutet das für uns – hier, heute, in Deutschland?
1. Ulama – die Erben der Propheten
Im Islam sind Gelehrte nicht bloß Lehrer oder Akademiker. Der Prophet Muhammad (s) sagte:
„Die Gelehrten sind die Erben der Propheten.“
(Überliefert von Abu Dawud und Tirmidhi)
Was sie erben, ist nicht Macht, Reichtum oder Ruhm – sondern Wissen. Ein Wissen, das Herz und Verstand formt, Recht von Unrecht unterscheidet, und das Licht der göttlichen Offenbarung in jede Zeit trägt. Die ‘Ulama sind damit mehr als Wissensvermittler: Sie sind Träger einer moralischen Verantwortung.
2. Nicht jeder mit Wissen ist ein Alim
In der islamischen Tradition wird klar zwischen Information und Wissen unterschieden – und noch deutlicher zwischen Wissenden und Gelehrten. Ein Alim oder eine Alima ist jemand, der nicht nur über Kenntnisse verfügt, sondern sich durch bestimmte Merkmale auszeichnet:
- Systematische Ausbildung: Klassischerweise über viele Jahre, mit einem klaren Curriculum in Fächern wie Quranwissenschaften, Hadith, Fiqh, Usul al-Fiqh, arabische Sprache, Logik und mehr.
- Verantwortungsethik: Ein Gelehrter spricht nur, wenn er sicher ist. Er weiß, wann er schweigen muss – und wann er Stellung beziehen muss.
- Spiritualität: Ohne Tazkiya (Herzensreinigung) ist Wissen trocken. Wahres Wissen nährt das Herz und führt zu Demut.
- Ijazah: Die klassische Lehrerlaubnis, oft verbunden mit einer Überlieferungskette (Sanad), zeigt, dass der/die Gelehrte Teil einer lebendigen Kette ist – keine Einzelstimme.
3. Gelehrsamkeit hat viele Formen
Der Begriff Ulama umfasst viele Spezialisierungen. Nicht jeder Alim ist ein Mufti, nicht jede Gelehrte eine Predigerin. Es gibt:
- Mufassir: Ausleger des Quran
- Muhaddith: Experte für Hadithe
- Faqih: Rechtsgelehrter
- Mutakallim: Theologe
- Usuli: Experte für Rechtsprinzipien
- Nahw-Experten: Meister der arabischen Grammatik
- u.v.m.
Diese Vielfalt zeigt: Gelehrsamkeit ist kein monolithischer Titel, sondern ein vielschichtiges Gefüge – und braucht Spezialisierung, Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung.
4. Gelehrsamkeit im digitalen Zeitalter
Heute erleben wir eine paradoxe Situation: Nie war islamisches Wissen so verfügbar – und doch ist das religiöse Verständnis oft so oberflächlich. Was fehlt?
- Tiefe: Algorithmen fördern das Lauteste, nicht das Wahrste.
- Geduld: Wahre Gelehrsamkeit braucht Zeit – und Demut.
- Einbettung: Wissen muss mit Erfahrung, Umfeld und Realität verbunden sein.
Gelehrsamkeit bedeutet heute auch, zwischen wertvollem Wissen und leerem Lärm unterscheiden zu können – und sich bewusst für Tiefe zu entscheiden.
5. Und was bedeutet das für uns in Deutschland?
In Deutschland gibt es kaum klassische Ulama. Viele Moscheen hängen noch an Gelehrten im Ausland. Doch ein Islam „made in Germany“ braucht auch Ulama made in Germany: Menschen, die den hiesigen Kontext verstehen, in deutscher Sprache denken und lehren, und in beiden Welten zu Hause sind – im Glauben und in der Gesellschaft.
Der Weg dahin beginnt mit einer Rückbesinnung: Was bedeutet wahres Wissen? Wer sind unsere Vorbilder? Und wie bereiten wir die nächste Generation auf diese gewaltige, schöne Aufgabe vor?
Fazit
Die islamische Gelehrsamkeit ist kein Titel – sie ist eine Verantwortung. In ihr liegt die Kraft, ganze Gesellschaften zu formen. Die Frage ist nicht nur, ob wir sie heute noch brauchen. Die eigentliche Frage ist: Was sind wir ohne sie?