Der Unterschied zwischen „Mufti“ und „Da’i“ – wer ruft und wer urteilt?
In muslimischen Kreisen werden Begriffe wie „Mufti“ und „Da‘i“ häufig verwendet – manchmal sogar austauschbar. Doch hinter diesen Titeln stehen grundverschiedene Rollen, Aufgaben und Verantwortungen. Ihre Verwechslung ist nicht harmlos, sondern kann gravierende Folgen haben – sowohl für Einzelpersonen als auch für ganze Gemeinschaften.
Der Da‘i – der Rufer zu Allah
Ein Da‘i (von da‘wah, Einladung) ist jemand, der die Menschen zu Allah einlädt – mit Weisheit, Geduld, Empathie und sanfter Sprache. Sein Ziel ist es nicht, Urteile zu fällen oder rechtliche Fatwas zu erlassen, sondern die Herzen zu berühren, den Glauben zu stärken, Menschen an das Jenseits zu erinnern und sie auf liebevolle Weise zur Religion zurückzuführen.
Er kennt seine Grenzen. Er arbeitet mit dem, was er sicher weiß – den Grundlagen der Religion. Er ruft zur Wahrheit, aber lässt das Urteil Allah (swt) über. Er weiß, dass sein Auftrag nicht ist, zu richten, sondern zu erinnern. Und er bleibt barmherzig, weil er weiß: Er selbst ist auf Allahs Barmherzigkeit selbst angewiesen.
Ein Da‘i ist der Brückenbauer. Er ist oft der Erste, den ein Mensch im Glauben kennenlernt – und der Letzte, den man vergisst.
Der Mufti – derjenige, der Urteil spricht
Ein Mufti hingegen ist ein Gelehrter mit tiefer, umfassender juristischer Ausbildung. Er ist jemand, der qualifiziert ist, Fatwas – also islamisch-rechtliche Stellungnahmen – zu erlassen. Diese Urteile stützen sich auf intensive Studien, methodische Prinzipien und jahrzehntelange Erfahrung. Ein Mufti spricht nicht aus Gefühl oder Stimmung, sondern auf der Grundlage von Usul al-Fiqh (den Wurzeln des islamischen Rechts) und der überlieferten Meinung der Gelehrten.
Die Aufgabe eines Muftis ist schwer – denn sein Wort kann Ehen trennen oder erlauben, Verträge verbieten oder legitimieren, Handlungen für halal oder haram erklären. Deshalb trägt er eine gewaltige Verantwortung. Es ist nicht nur Wissen, das ihn auszeichnet, sondern auch Demut, Genauigkeit und Gottesfurcht.
Wenn der Da‘i zum Mufti wird (und umgekehrt)
Ein wachsendes Problem in unserer Zeit: Viele Da‘is übernehmen plötzlich die Rolle des Muftis. Auf TikTok, Instagram, YouTube und in WhatsApp-Gruppen werden schnell Fatwas ausgesprochen – oft mit wenig Hintergrund, wenig Sorgfalt und ohne Methodik. „Das ist haram!“ „Das ist shirk!“ „Diese Ehe ist ungültig!“ – Aussagen, die gewaltige Folgen haben, werden heute in Sekundenbruchteilen getätigt. Und genau das ist gefährlich.
Andererseits gibt es auch Muftis, die die Rolle des Da‘i vernachlässigen. Sie sprechen Urteile aus, ohne den seelischen Zustand des Zuhörers zu berücksichtigen. Sie lehren die Religion ohne Barmherzigkeit, ohne Empathie, ohne den Weg der Einladung zu gehen. Auch das ist gefährlich – denn Wissen ohne Zugang bleibt oft ohne Wirkung.
Die Ummah braucht beides – aber sie darf sie nicht verwechseln
Die muslimische Gemeinschaft braucht Da‘is, die motivieren, erinnern, einladen. Und sie braucht Muftis, die klären, urteilen und das Wissen bewahren. Aber wir dürfen nie vergessen, wer wer ist. Der Da‘i ruft mit Weisheit. Der Mufti urteilt mit Verantwortung.
Wenn wir diese Rollen verwechseln, verlieren wir beides: die Herzlichkeit des Da‘i und die Tiefe des Mufti. Wenn aber beide Seiten ihre Position kennen, respektieren und sich ergänzen – dann entsteht etwas Großes. Dann kann die Ummah wachsen, stark werden und sich fest an das Seil Allahs halten – mit Herz und Verstand.
Ein Aufruf an uns alle
Bevor du jemanden fragst: „Ist das halal oder haram?“ – frage dich: Ist diese Person ein Mufti?
Bevor du jemanden verurteilst, frage dich: Wurde dir diese Verantwortung überhaupt übertragen?
Bevor du zu einem Urteil greifst, greife zu einem du‘a – und erinnere dich: Nicht jeder, der ein Publikum hat, ist auch befugt zu urteilen.