Was macht einen Gelehrten aus – und wer darf sprechen?
In einer Zeit, in der jeder auf TikTok, Instagram und YouTube seine Meinung kundtun kann, ist eine alte, fast vergessene Frage wieder hochaktuell: Wer darf im Namen des Islam sprechen – und warum gerade er oder sie?
Diese Frage ist kein Luxusproblem, sondern existenziell für jede muslimische Gemeinschaft. Denn inmitten der Informationsflut, der Konflikte und der Herausforderungen unserer Zeit brauchen Muslime Orientierung. Doch woher kommt diese Orientierung – und wer gibt sie?
Zwischen Tradition und Gegenwart
In der klassischen islamischen Tradition war die Sache klar: ʿUlamāʾ (Gelehrte) waren Menschen, die jahrelang gelernt, sich bewährt, sich geprüft und die Anerkennung ihrer Lehrer erhalten hatten. Ihr Wissen war tief, fundiert, durchdrungen von Gottesfurcht und Verantwortung.
Ein Gelehrter war nicht nur jemand, der wusste – sondern auch jemand, der lebte, was er wusste. Seine Spiritualität, sein Charakter, seine Geduld, seine Verantwortung für die Ummah: all das gehörte zu seiner Autorität.
Heute aber verschwimmen die Grenzen.
Die neue Bühne: Social Media
Heutzutage kann sich jeder ein Mikrofon kaufen, ein ansprechendes Logo basteln, ein paar Hadithe zitieren – und innerhalb weniger Wochen zum „Scheich“ aufsteigen. Man braucht kein Studium, keine Lehrer, keine Rechenschaft. Nur Reichweite.
Das Ergebnis: eine gefährliche Mischung aus Halbwissen, Selbstüberschätzung und spirituellem Showbusiness. Und das Schlimmste: Viele erkennen den Unterschied nicht mehr.
Doch diese Entwicklung ist nicht nur Schuld der „Influencer“. Sie ist auch das Resultat einer Lücke, die wir als Gemeinschaft selbst gelassen haben.
Denn: Wo sind die echten Lehrer? Wo ist die nächste Generation von ʿUlamāʾ? Wo ist die Struktur, die Wissen fördert, Autorität aufbaut – und schützt?
Kriterien eines Gelehrten – aus islamischer Sicht
Ein echter islamischer Lehrer oder Gelehrter zeichnet sich durch mehrere Säulen aus:
- Verlässliche Überlieferungskette (Isnād): Er oder sie hat von Lehrern gelernt, die wiederum bei Lehrern gelernt haben – bis zurück zu den Quellen des Islam.
- Fundiertes Wissen: In den Kernbereichen: Tafsīr, Fiqh, ʿAqīdah, Hadith, Usūl usw.
- Praxiserfahrung: Nicht nur Theorie, sondern Anwendung – im Alltag der Muslime, in ihren Fragen, Sorgen und Leben.
- Anerkennung durch Fachkollegen: Nicht durch Followerzahlen, sondern durch andere Gelehrte.
- Spiritualität und Charakter: Ein Gelehrter ist kein Star. Sondern jemand, der durch Bescheidenheit, Gottesfurcht und Fürsorge glänzt.
Wer darf sprechen?
Im Prinzip: jeder. Im Islam ist Reden keine exklusive Eliteangelegenheit. Aber: Nicht jeder darf über alles sprechen.
Ein Beispiel: Ein muslimischer Lehrer kann Kindern den Islam beibringen – aber daraus folgt nicht automatisch, dass er Fatwas erteilen darf. Jemand, der Qur’an rezitiert, ist nicht automatisch ein Mufti. Eine starke religiöse Meinung zu haben, ersetzt keine systematische Ausbildung.
Die Regel ist einfach, aber entscheidend:
Wer ohne Wissen spricht, führt die Menschen in die Irre – und trägt die Verantwortung.
Die Verantwortung der Zuhörenden
Doch auch die Zuhörer tragen Verantwortung. Wer bereit ist, jemandem zuzuhören, sollte sich fragen:
- Wo hat diese Person gelernt?
- Wer sind ihre Lehrer?
- Was sagen andere Gelehrte über ihn oder sie?
- Fördert diese Person Einheit – oder Spaltung?
- Ist sie demütig oder selbstverliebt?
- Bringt sie Menschen näher zu Allah – oder nur näher zu sich selbst?
Unsere Aufgabe als Gemeinschaft
Wir brauchen nicht nur echte Gelehrte. Wir brauchen auch Menschen, die sie erkennen können.
Dafür braucht es Bildung. Bewusstsein. Und eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was wir konsumieren.
Und: Wir brauchen Strukturen, die neue Gelehrte fördern, sichtbar machen und schützen.
Gelehrte sind keine Stars, keine Prediger mit großen Reden, keine TikTok-Stars mit viralen Clips. Sie sind die Erben der Propheten – und verdienen eine Bühne, auf der sie wirken können. Eine Bühne, die wir als Gemeinschaft bauen müssen.